Interview mit Lasse Rheingans: Was kommt nach dem 5-Stunden-Tag?

Wer sich auch nur oberflächlich mit Arbeitszeitverkürzung beschäftigt, merkt schnell: Vor Lasse Rheingans gibt es kein Entkommen. Dieser Mann taucht früher oder später in jedem Beitrag über Arbeitszeitverkürzung auf. Er hat in seiner Agentur 2017 einen 5-Stunden-Tag eingeführt. Damit ist eine Welle der Berichterstattung vom Mindener Tageblatt bis zur New York Times über ihn hereingebrochen, die bis heute anhält.

2019 hat er über seine Erfahrungen das Buch „Der 5-Stunden-Tag: Wer Erfolg will, muss Arbeit neu denken“ verfasst. Darin beschreibt er, wie in seiner Agentur anders und besser gearbeitet wird, um in fünf Stunden Höchstleistung genauso viel zu schaffen wie anderswo in acht.

Dabei sind die folgenden Punkte für ihn zentral:

  • Verantwortung der Mitarbeitenden für die eigenen Tagesziele
  • Vermeidung von Ablenkung, zum Beispiel keine Push-Benachrichtigungen für Mails oder auf dem Handy
  • Effiziente Meetingstruktur, um Zwischenstände zu teilen und Transparenz herzustellen
  • Prozesse verbessern und automatisieren
  • Möglichkeiten für soziale Zeit als Ausgleich für fehlende Flurgespräche bewusst einplanen
  • Regelmäßiges Feedback für die Weiterentwicklung des 5-Stunden-Tags einplanen

Ich habe mich mit Lasse unterhalten und ihn nach der Weiterentwicklung des 5-Stunden-Tags und seiner Agentur, seiner Einschätzung zur 4-Tage-Woche und den zukünftigen Herausforderungen der Arbeitswelt befragt.

Der Weg zur New Work-Beratung

Inzwischen ist rheingans nicht mehr eine klassische Digitalagentur, sondern eine New Work-Beratung. Wie ist es dazu gekommen und was macht ihr jetzt konkret?

Das hat sich aus dem Interesse an unserem 5-Stunden-Tag entwickelt und wir sind damit unserem Sinn als Organisation gefolgt: Was zeichnet uns aus? Was macht uns einzigartig? Frederik Laloux beschreibt das in dem extrem guten Buch Reinventing Organizations als Evolutionary Purpose.

Wir haben durch den Medienrummel um den 5-Stunden-Tag viele Anfragen bekommen, Unternehmen auf dem Weg zu einer agileren, besseren Arbeitsorganisation zu beraten. Das haben wir mehr und mehr gemacht.

Gleichzeitig ist das Digitalgeschäft immer schwieriger geworden. Einerseits ist die Zahlungsbereitschaft von Kunden gesunken, auch weil sie die Komplexität von Digitalprojekten oft schlecht einschätzen können. Andererseits sind die Personalkosten gestiegen, weil Entwickler:innen so händeringed gesucht werden und sie mir nach und nach von großen Konzernen abgeworben wurden.

Seit Anfang des Jahres sind wir jetzt eine reine New Work-Beratung. New Work ist für mich als loses Gesamtkonzept ein Gegenmittel, um Organisationen in einem Umfeld des rasanten Wandels bestehen zu lassen. 

Hier ist unsere Pyramide, mit der ich erkläre, was wir konkret machen:

New Work Pyramide von Rheingans
New Work Pyramide von Rheingans

Wir gehen in Organisationen rein, überprüfen Prozesse, führen Interviews und helfen auf jeder Ebene dieser Pyramide, damit Mitarbeiter:innen mehr Freiheiten bei der Arbeit erleben, neue Ideen entwickeln und diese auch umsetzen können. So werden Unternehmen agiler und widerstandsfähiger in eine Zukunft des Wandels.

Vom 5-Stunden-Tag zur Selbstorganisation

Inzwischen habt ihr vom 5-Stunden-Tag auf individuell anpassbare, selbstorganisierte Aufgabenerfüllung ohne festgelegte Anwesenheitszeiten umgestellt. Warum habt ihr das gemacht? Und wie kann ich mir das konkret vorstellen?

Der Wahnsinn der Pandemie hat den 5-Stunden-Tag gesprengt: Einige mussten ihre Kinder daheim betreuen, andere für ihre Eltern einkaufen. Da war synchrones Arbeiten von 8 bis 13 Uhr unrealistisch.

Wir haben dann auf die Selbstorganisation der Mitarbeitenden umgestellt. Ein gewisser Grad an Formalisierung mit fixen Terminen, maximaler Transparenz und den richtigen Tools ermöglicht einen hohen Grad an individueller Autonomie.

Wie viele Stunden arbeiten dann jetzt eure Mitarbeitenden im Durchschnitt?

Ich habe keine Ahnung, ich kontrolliere das nicht und es ist mir auch egal. 

Wir reden jede Woche über die Finanz- und Projektlage. Durch die Transparenz weiß jeder, was gemacht werden muss. Wir machen mit jedem Mitarbeitenden ein Stärkenscreening, um sie optimal einzusetzen. 

Und als Mitarbeiter weißt du selbst am besten, wann es genug ist. Du weißt selbst am besten, wann dein Kind krank ist, wann du Urlaub brauchst und wann du viel abgeliefert hast. Und du kennst den Rahmen unserer Organisation. 

Inwiefern ist euer Arbeitsmodell auf andere Organisationen übertragbar?

Grundsätzlich ist das auf alle übertragbar. Aber es ist schwierig, weil die Haltung der Führungskräfte entscheidend ist.

Du brauchst ein gewisses Wohlwollen und das hast du oft nicht. Viele Führungskräfte sind Psychopathen und Kontrollfreaks, weil das in der alten Arbeitswelt belohnt wurde.

Von der Haltung der Führungskräfte mal abgesehen – macht nicht auch die Größe der Organisation einen Unterschied? Was für euch mit zwölf Leuten und viel gegenseitigem Vertrauen funktioniert, muss doch für eine Organisation mit 10.000 Mitarbeitenden nicht klappen…

Auch dann ist es grundsätzlich übertragbar, weil auch größere Organisationen in kleineren Teams organisiert sind. Und dann muss es nicht anders laufen als bei uns.

Gehalt als das nächste Riesenthema

Eine andere spannende Frage ist das Gehalt. Das ist meistens an die Arbeitszeit gekoppelt. Wie bestimmst du ohne feste Arbeitszeiten das Gehalt?

Das ist bei mir relativ einfach. Ich frage die Mitarbeitenden, was sie brauchen und ich schaue, was das Unternehmen zahlen kann. Bei mir verdienen zum Beispiel die Kundenberater:innen alle ungefähr das gleiche.

Aber das Gehalt wird sicherlich nach den Arbeitszeiten das nächste Riesenthema.

Warum glaubst du das?

Weil wir vorgeben, nach Leistung zu bezahlen und Leistung nicht mehr so einfach zuzuordnen ist. Die Prozesse in Unternehmen sind nicht mehr so statisch und der Wertbeitrag von jedem Prozessschritt ist nicht mehr zu bestimmen. Deswegen hat die Idee, nach irgendwie messbarer Leistung zu bezahlen, demnächst ausgedient.

Dazu habe ich die beispielhafte Geschichte, wie ein Ingenieur bei einem großen deutschen Konzern durch eine einfach Idee die Jahresarbeit von einem ganzen Entwicklungsteam zunichte gemacht hat. Wie sollte man hier die Leistung des Ingenieurs oder des Entwicklungsteams bezahlen?

Es leuchtet mir ein, dass die Bezahlung nach Leistung immer absurder wirkt. Aber wie soll man es stattdessen machen? Sollten dann alle einfach das gleiche bekommen?

Ich glaube, dass es in Organisationen einen wohlwollenden gemeinsamen Plan braucht, der die Bedürfnisse der Mitarbeitenden und die Möglichkeiten der Organisation berücksichtigen. 

Eine kleine Sache dabei: Ich bin schon immer ein Gegner von individuellen Boni. Die sind aus meiner Sicht Blödsinn. In einer früheren Firma hatte ich dazu einmal ein Gespräch, warum ich denn keinen Umsatz bringe. Ich hatte tatsächlich kaum Stunden auf die damals laufenden Projekte gebucht. Aber ich hatte die meisten der laufenden Projekte hereingebracht.

Gesellschaftlich glaube ich, dass wir ein bedingungsloses Grundeinkommen brauchen. Das entschärft viele Probleme.

Zum Abschluss: Was hältst du von der 4-Tage-Woche? Und warum wird die 4-Tage-Woche so heiß diskutiert, während der 5-Stunden-Tag ein bisschen in der Versenkung verschwunden ist?

Für mich ist das ein Schritt in die richtige Richtung, solange nicht einfach die vierzig Stunden auf vier Tage verteilt werden. Ich denke, dass aufgrund der Marktdynamik die 4-Tage-Woche kommt. Ein Unternehmen in einer Branche wird sie einführen und die anderen müssen nach und nach nachziehen, einfach um trotz Arbeitskräftemangel noch Mitarbeitende bekommen und halten zu können.

Die 4-Tage-Woche ist charmant, weil sie relativ einfach umzusetzen ist. In jedem Unternehmen arbeiten sowieso schon einige am Freitag nicht. Dann fällt der Schritt leichter, das allen zu ermöglichen. Die Umstellung auf die 4-Tage-Woche stellt deswegen weniger in Frage als der 5-Stunden-Tag.

Vielen Dank für das nette Gespräch und die spannenden Antworten, Lasse!


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