Eine Firma, in der alle maximal 20 Stunden arbeiten: wie geht das?

Das Sozialunternehmen Tür an Tür Digitalfabrik ist bisher vor allem für seine App Integreat bekannt ist. Integreat vereinfacht es, zugewanderten Menschen schnell mit lokalen Informationen in verschiedenen Sprachen zu versorgen.

Auch sehr bemerkenswert finde ich, dass dieses Sozialunternehmen Pionierarbeit in seiner Arbeitsorganisation leistet: Die Regelarbeitszeit beläuft sich auf gerade mal 20 Stunden. Hinter der damit verbundenen 3-Tage-Woche verblasst selbst die momentan heiß diskutierte 4-Tage-Woche.

Da ist es für mich natürlich eine Pflicht nachzufragen, was die Motivation dahinter ist und wie das alles funktioniert. Das habe ich bei Daniel Kehne getan.

Daniel ist Mitgründer und Geschäftsführer der Tür an Tür Digitalfabrik. Außerdem wurde Daniel 2019 von der Computerwoche und dem CIO Magazin als CIO of the Year ausgezeichnet.

Ein Deckel von 20 Stunden pro Woche

Bei der Tür an Tür Digitalfabrik dürfen alle maximal 20 Stunden pro Woche arbeiten. Warum habt ihr euch dafür entschieden?

Für die Ziele in unserem Sozialunternehmen ist der Output entscheidend, nicht der Input. Durch die Digitalisierung können wir Tätigkeiten effizienter erledigen als früher. Wo andere Unternehmen den Effizienzgewinn komplett in „noch mehr Output“ reinvestieren, setzen wir in unserem Modell eher darauf, den Mitarbeitenden mehr Zeit für Familie, Kreativität und Engagement zu geben.

Mittlerweile ist die 20-Stunden-Woche ein starkes Alleinstellungsmerkmal für uns, insbesondere für IT-Fachkräfte, die etwa 2/3 unserer Beschäftigten ausmachen. Montag bis Mittwoch geben wir als die drei Wochentage aus, an denen gearbeitet wird. 

Mit der Decklung auf 20 Wochenstunden wollten wir ein Angebot machen für alle, die ihr eigenes Optimum eher bei 20 Wochenstunden sehen. Wir haben nie wirklich Nachteile darin gesehen, 20 Stunden als „normal“ anzusehen und das in einer 3-Tage-Woche umzusetzen.

Eine Woche hat 168 Stunden. Wer legt denn eigentlich fest, wo das Optimum an Arbeitstunden ist? Ob ich davon in 10, 20, 30 oder 40 Stunden in eine „abhängige Beschäftigung“ investieren möchte, bleibt jedem Arbeitnehmer und jeder Arbeitnehmerin selbst überlassen. 

Steckbrief Tür an Tür Digitalfabrik

Wir sind ein Sozialunternehmen an der Schnittstelle von Digitalisierung und Integration und haben uns zum Ziel gesetzt vulnerable Gruppen durch digitale Lösungen zu stärken. 

gegründet am 22. Juni 2016

Beschäftigtenzahl: 36

Davon in Teilzeit: 36

Davon überwiegend remote: 24

Offene Stellen: 0

Kontakt: Daniel Kehne – digitalfabrik@tuerantuer.de

Wie ist es zu dieser Entscheidung gekommen? War es von Anfang an so, dass alle maximal 20 Stunden arbeiten durften?

Die Entscheidung die Wochenstunden auf 20 zu deckeln, war 2016 eher zufällig und dem Umstand geschuldet, dass wir unsere Unternehmen aus dem ehrenamtlichen Engagement heraus gegründet haben.

Gerade in der Anfangszeit hatten wir viele Ehrenamtliche, die wir zeitlich nicht abhängen wollten, wenn sie selbst z.B. nur 5-10 Stunden in der Woche neben ihrem Beruf bei uns involviert waren. Aber ja, wir haben das von Anfang an so gemacht, zumindest bei allen hauptamtlich Beschäftigten. Bei den Ehrenamtlichen ist es schwer nachprüfbar und da würde ich auch meine eigene Hand nicht dafür ins Feuer legen. 

Anfangs war es für uns also auf der einen Seite ein Experiment. Ich selbst, bei Siemens durch die Lehre gegangen, kannte immer nur die 40 bzw. 35-Stunden-Woche und für mich war irgendwie klar: Montags bis Freitags wird gearbeitet, das Wochenende sind die beiden anderen Tage.

Auf der anderen Seite haben wir dann fortlaufend gemerkt, dass das 20-Wochenstunden-Modell viele Vorteile auf der Seite der Beschäftigten hat: Familie und Beruf lassen sich besser vereinen, Fort- und Weiterbildungen (z.B. Studium und Sprachkurse) sind nebenher problemlos möglich und man kann sich auch noch zusätzlich ehrenamtlich engagieren. 

Weniger als 20 Stunden arbeiten

Was ist den so die typische Stundenanzahl bei euren Mitarbeiter:innen? Nahe der 20 Stunden oder deutlich weniger?

Die Hälfte unserer Beschäftigten ist mit dem „Maximum“, also den 20 Wochenstunden unterwegs. Circa ein Drittel ist im Minijob zwischen 5 und 7,5 Wochenstunden beschäftigt und der Rest pendelt sich dann irgendwo dazwischen ein, mit 12, 15 oder auch 18 Wochenstunden.

Wir führen 3-4 Mal pro Jahr mit jedem Mitarbeitenden sogenannte Entwicklungsgespräche durch, bei denen es auch um den aktuellen Stundenumfang, Überlastungen oder Änderungen der persönlichen Lebensumstände geht. Dadurch ergeben sich dann auch immer mal kurzfristige, gemeinsam abgestimmte, Anpassungen nach oben oder unten. 

Gibt es auch ein Minimum an Wochenstunden bei euch? Woran macht ihr das fest?

Ganz grob sollten nicht mehr als 30% der Wochenarbeitszeit in die regulären, wiederkehrenden Meetings fließen. Das haben wir mal so festgelegt.

Daher sind 5 Wochenstunden das Minimum. Tatsächlich ist aktuell nur eine Person in diesem Umfang bei uns tätig.

Chancen der 3-Tage-Woche

Welche Chancen bieten sich einer Organisation, in der alle maximal 20 Stunden arbeiten?

In unseren internen Umfragen sehen wir immer eine sehr hohe Mitarbeiterzufriedenheit. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass wir Innovations- und Kreativprozesse nicht erzwingen müssen, sondern eine Kalenderwoche ausreichend Erholungs- und Denkzeit bietet. 

Das Alleinstellungsmerkmal aus der ersten Antwort möchte ich auch nochmal betonen. Aktuell haben wir trotz IT-Fachkräftemangel keine offenen Stellen, die wir besetzen müssen. Auf die letzte offene Stelle hatten wir 40 Bewerbungen. Der Anteil an Frauen in der Softwareentwicklung liegt bei uns bei 50%. Irgendwas scheinen wir also richtig zu machen und sei es nur die Positionierung am Arbeitsmarkt.

Außer Acht lassen möchte ich auch nicht, dass wir in Notsituationen – und die hatten wir zuletzt durch Corona und auch durch den russischen Angriffskrieg – auch mal kurzfristig die Ressourcen hochfahren können. Die Akzeptanz der Mitarbeitenden ggf. für 1-2 Monate um 5-10 Stunden auf 25-30 Wochenstunden aufzustocken, um dringliche Entwicklungen, wie z.B. eine Wohnraumbörse für Ukrainer:innen oder die Anbindung der 7-Tage-Inzidenz in unsere Dienste, ist deutlich höher, als wenn ich einen Beschäftigten mit 40-Stunden nach zusätzlichen Überstunden frage, die dann ggf. nicht mal vergütet werden. Das ist bei uns natürlich nicht die Regel und aktuell sind wir wieder alle auf dem „Normalniveau“ von maximal 20 Stunden unterwegs.

An welchen Stellschrauben habt ihr gedreht, um in den maximal 20 Stunden möglichst viel zu schaffen?

Eine funktionierende interne Struktur ist das A und O. Sei es die Kommunikation, die passenden Tools oder das Thema Mitarbeiterführung. Für die Zielsetzung nutzen wir die Methode der Objectives and Key Results (kurz: OKR). Damit lassen sich sehr schlank und effizient Ziele definieren, die wir dann mit den vorhanden Ressourcen erreichen wollen.

Ich würde behaupten, dass ich mit zwei 20-Stunden-Stellen, die an der gleichen Aufgabe arbeiten, sogar mehr schaffe, als mit einer 40-Stunden-Stelle. Insbesondere unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit, da durch Abstimmungsaufwände Dokumentationen von alleine erstellt werden, Wissen an gleich zwei Stellen in der Organisation aufgebaut wird und beide Personen im Idealfall durch unterschiedliche Charakteristiken oder Vorerfahrungen andere Perspektiven mit in den Arbeitsprozess bringen.

Wenn wir das Gefühl haben, wir kommen mit einer 20-Stunden-Stelle ans Limit, dann schaffen wir einfach eine weitere 20-Stunden-Stelle.

Natürlich ist das auch ein ganz großes Privilig, das wir da haben, denn das geht nur so einfach, weil wir in der IT-Branche sind. Da können wir durch Software-as-a-Service und digitale Lösungen einfach sehr gut skalieren, ohne die internen Ressourcen in gleichem Maß aufstocken zu müssen.

Welche Herausforderungen ergeben sich aus eurer 3-Tage-Woche? Wie könnt ihr zum Beispiel Menschen halten, die – aus welchen Gründen auch immer – mehr als 20 Stunden arbeiten wollen?

Ob du es glaubst oder nicht, aber ich glaube, es gibt niemanden bei uns, der diese potenziell 4 freien Tage auch wirklich als freie Tage nutzt.

Wer keine Familien hat oder einem Engagement oder zeitintensiven Hobby nachgeht, sucht sich meistens noch irgendeine kleine Beschäftigung. Meistens sogar in einem ganz anderen Umfeld als dem IT-Bereich: Sei es in einer Töpferei, als Komparsin beim Theater, in der Politik, im Biotech-Umfeld oder im Bioladen nebenan, um nur ein paar Beispiele bei uns zu nennen.

Aus der „People“-Brille ist das natürlich eine richtig coole Sache, denn die Geschichten und Impulse, die dann bei unseren Workshops oder Events aufeinander prasseln, sind extrem facettenreich. Natürlich gibt es auch ein paar IT-Cracks bei uns, die nebenher noch ein bisschen gewerblich aktiv sind oder hier oder da nach Lust und Laune mal bei einer neuen Webseite oder App-Entwicklung unterstützen, aber eben auch vor allem, weil es zeitlich möglich ist.

Die Themen Erreichbarkeit und Gehalt

Da eure Arbeitszeiten von Montag bis Mittwoch sind: Seid ihr für eure Partner und Kunden Donnerstag und Freitag erreichbar?

Freitags sind wir tatsächlich nicht erreichbar, aber daran haben sich unsere Kunden bereits gewöhnt. Donnerstags ist es ein bisschen Glückssache, ob man uns erreicht.

Im Zuge der Flexibilisierung haben wir die 3-Tage-Woche etwas individualisierbarer gemacht und man kann auch den Montag freimachen, wenn man möchte. Nur Meetings und Termine finden weiterhin nur Montags bis Mittwochs statt, d.h. alles was auch mit Kunden und Partnern planbar ist, liegt dann sowieso auf den ersten drei Wochentagen. 

Welche Rolle spielt das Gehalt bei eurem Arbeitzeitmodell?

Das Gehalt spielt bei den allermeisten Beschäftigten in unserer Organisation nur eine von vielen Rollen. Die Faktoren Flexibilität, sinnstiftende Arbeit, Verantwortung und ständiges Lernen und Weiterbilden sind vermutlich bei den allermeisten Beschäften mit dem Gehalt auf Augenhöhe unterwegs.

Manchmal werde ich von außen gefragt, ob man bei uns mit 20 Wochenstunden auch so viel verdient wie woanders mit 40 Wochenstunden. Mir fällt es ehrlich gesagt schwer, die Frage zu beantworten, weil ich gar nicht weiß, mit wem wir uns so richtig vergleichen sollen.

Wir haben ein faires und transparentes Gehaltsmodell etabliert, das keinen Zusatzjob notwendig macht, Altersvorsorge sicherstellt und aus subjektiver Sicht der Beschäftigten ausreichend ist. 

Wir legen unsere Umsätze, von denen aktuell 85% ins Personal reinvestiert werden, einmal im Quartal für alle Mitarbeitenden offen. Dann zeigen wir auch, wie diese 85% unter allen Mitarbeitenden verteilt werden.

Jeder kann auch Fragen stellen, warum/wie/weshalb es z.B. nicht bei allen das gleiche Gehalt ist. Das passiert natürlich in Einzelgesprächen, aber an sich ist das nur ein weiterer logischer Schritt, den wir gehen: als Sozialunternehmen sehen wir uns nicht nur nach außen in der sozialen Verantwortung, sondern auch nach innen.

Vielen Dank für das spannende Gespräch, Daniel!

Wer jetzt mehr über die faszinierende Arbeitskultur bei der Tür an Tür Digitalfabrik erfahren möchte, kann einen Blick in das öffentlich zugängliche Firmenwiki werfen.


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